Herr Bundesrat, der mediale Rummel um die Europapolitik ist gross – Sie haben ein ausgesprochen schwieriges Dossier übernommen. Wie gut schlafen Sie da noch?
Ich habe immer gut schlafen können und bin dankbar, dass es so ist. Das erlaubt es mir, unter Stress starke Nerven zu behalten.
Oft wurde gefordert, die Schweiz habe gegenüber der EU endlich mit einheitlicher Stimme zu sprechen und selbstbewusster aufzutreten. Stimmt die Richtung jetzt?
Ja, tatsächlich gab es in den letzten Jahren eine Konfusion in der öffentlichen Debatte, aber auch ein zunehmendes Misstrauen – was wollen wir überhaupt? Das war die Anfangsarbeit: Klarheit zu schaffen über das, was wir wollen und über das, was wir nicht wollen.
Ziehen Sie ein positives Fazit Ihrer ersten Monate im Amt?
Durchaus. Die ersten 100 Tage waren sehr intensiv: Der wichtigste Test im EU-Dossier war die erste Sitzung des Bundesrates zu diesem Thema am 31. Januar, wo es darum ging, diese Hürde entweder zu überwinden oder direkt mit der Nase dagegenzulaufen. Heraus kam zum Glück ersteres. Weitere Sitzungen haben es dann erlaubt, Licht im Tunnel zu machen und festzulegen, wohin der Weg führen soll.
Provokativ gefragt: Können wir nicht auch ohne bilateralen Weg leben?
Natürlich können wir. Aber: Wir müssen uns bewusst sein, welche Auswirkungen das auf die Arbeitsplätze und den Wohlstand in der Schweiz hätte. Fakt ist: Handelsbeziehungen sind dann prosperierend, wenn sie sicher und voraussehbar sind – das bedeutet Verträge. Etwa zwei Drittel unseres ganzen Handelsaustauschs mit der EU läuft über Deutschland, Frankreich und Italien. Wir haben diese Handelsbeziehung bisher erfolgreich über die bilateralen Verträge geregelt. Nun steht die Welt aber nicht still. Sie dreht sich weiter und damit entwickeln sich auch diese Verträge. Wie wir diese Verträge «updaten» – das ist die berühmte «institutionelle Frage».
«Zwei Drittel unseres ganzen Handelsaustauschs mit der EU läuft über Deutschland, Frankreich und Italien»
Wir brauchen also diesen institutionellen Mechanismus wegen der Rechtssicherheit? Welche Vorteile erhofft sich die Schweiz davon?
Es geht um die bestmögliche Wirtschaftsintegration bei geringstmöglichem Souveränitätsverlust. Der Bundesrat hat den bilateralen Weg bestätigt - wir wollen aber nicht die vollständige Teilnahme auf dem EU-Binnenmarkt, weil wir dann zu viel Souveränität verlieren würden.
Welchen Eindruck haben Sie von den bisherigen Verhandlungen gewonnen? Finden die Verhandlungen auf Augenhöhe statt?
Technisch gesehen ja; das sind auf beiden Seiten Spezialisten. Politisch gibt es natürlich einen Unterschied: Die EU ist ein 520 Millionen-Menschen-Markt, wir sind 8,5 Millionen. Machtpolitik spielt in unserer Welt eine immer grössere Rolle. Grosse Staaten brauchen notfalls keine multilateralen Abkommen: Die USA, die Türkei, Russland oder China müssen nicht geschützt werden. Sie sind gross genug, um ihre Macht auszuspielen. Die Schweiz ist das nicht. Sie hat immer profitiert vom Rechtsschutz der multilateralen Abkommen. Und wir brauchen kluge rechtliche Beziehungen, damit wir soweit wie möglich in Ruhe und Wohlstand leben können.
Es besteht einige Verwirrung um die Begriffe dynamische bzw. automatische Rechtsübernahme und den Streitbeilegungsmechanismus. Was bedeutet das, müssen wir um unsere Eigenständigkeit bangen?
Bestmöglichen wirtschaftlichen Marktzugang erreichen wir mit zweckmässigen Verträgen in verschiedenen Sektoren. Die institutionelle Frage betrifft zwei Dinge: Wollen wir gleich lange Spiesse im Schweizer und im EU-Binnenmarkt, damit wir im gleichen Fussballspiel spielen? Und: Wie regeln wir Streitigkeiten?
Wenn die Schweiz sich nicht an die Standards der EU anpasst, hat sie ein Wettbewerbsproblem. Für die Anpassung an die Rechtsentwicklung innerhalb der EU gibt es zwei Varianten. Variante A: automatische Rechtsübernahme – ausgeschlossen, kommt nicht in Frage. Wir wollen grösstmögliche Souveränität.
Variante B: dynamische Übernahme – das ist der Weg, für den wir uns jetzt entschieden haben. Das heisst: Wird eine Richtlinie in der EU angepasst, kommt das Thema auch in den Bundesrat, der es auf Verordnungs- oder Gesetzesebene anpasst. Er muss nicht – er darf das tun. Wenn er nicht will, macht er es nicht. Danach entscheidet das Parlament, und dagegen kann das Referendum ergriffen werden. Am Schluss wird die Schweizer Bevölkerung Ja oder Nein sagen zu dieser Rechtsanpassung. Wenn sie Ja sagt, sind die Fussballspielregeln gleich. Wenn sie Nein sagt, darf die EU Ausgleichsmassnahmen fassen, die verhältnismässig sein müssen. Beispielsweise kann sie sagen: «Dieses Schweizer Produkt entspricht den neuen EU-Regeln nicht, es darf nicht mehr auf dem EU-Binnenmarkt verkauft werden».
Bei der Streitbeilegung geht es darum, was passiert, wenn ein Schweizer Produzent das Gefühl hat, er könne sein Produkt zu Unrecht in Deutschland nicht verkaufen. Bei einer solchen Streitigkeit gibt es heute keinen aussichtsreichen Rechtsweg. Das institutionelle Abkommen kann das ändern. Die Frage ist dann, wer entscheidet wie und was? Und hier kommt die ganze Diskussion der Streitschlichtung mit einem Schiedsgericht.
Warum ein Schiedsgericht?
Weil jede Seite ihr Landesrecht selber auslegen will: Niemand will fremde Richter haben! Aber in einem bilateralen Vertrag hat es auch gemischtes Recht, also Recht, das durch ein bilaterales Abkommen erst entsteht. Wer soll hier nun also zuständig sein? Die Schweiz? Nein, das will die EU nicht. Die EU? Nein, das wollen wir nicht. Also brauchen wir ein ad hoc-Gericht, das die Zuständigkeit klärt: Ein Richter aus der Schweiz, ein Richter aus der EU und ein dritter, der weder aus der Schweiz noch aus der EU stammt.
«Ein Binnenmarkt ist wie eine Fabrik: Jedes Land ist eine Abteilung. Jede Abteilung ist unterschiedlich, aber das Produzierte passt am Schluss zusammen»
Haben Sie schon eine Vorstellung davon, wie das funktionieren könnte?
Ja, wir haben gute Erfahrungen mit solchen Schiedsgerichten in den Handelsbeziehungen zwischen Staaten - das ist ein Standardinstrument bei den Freihandelsabkommen weltweit, beispielsweise im Rahmen der WTO.
Wie weit sind Sie in den Verhandlungen bereit zu gehen? Was kann die Schweiz von der EU verlangen – und wann ist es Zeit zu sagen: «Nein danke, ohne uns?»
Nein sagen wir, wenn unsere roten Linien überschritten sind. Wenn Sie eine Verhandlung eingehen für den Kauf eines Autos, definieren Sie rote Linien: Die Farbe ist egal, doch maximal zahle ich 20'000 Franken. Wenn der Verkäufer dann 21'000 Franken will, lassen Sie es sein. Wir haben rote Linien bei der Personenfreizügigkeit. Ebenso bei der Übernahme der Unionsbürgerrichtlinien – das wollen wir nicht. Harmonisierung der Sozialversicherungen – wollen wir nicht. Und schliesslich haben wir «Essentials» definiert: Wir sind bereit darüber zu sprechen, haben aber klare Vorstellungen der Limiten, etwa bei den staatlichen Beihilfen.
Das Abkommen ist interessant, wenn es die roten Linien respektiert und beide Seiten profitieren. Wir suchen jetzt diesen Weg. Und gleichzeitig überlegen wir: Was ist der Plan B, falls es uns nicht gelingt? Ich glaube, es ist nicht obligatorisch, ein Abkommen zu haben. Es ist aber sehr wünschenswert. Irgendwann müssen wir zum Fazit kommen und sagen «take it or leave it» – und es geht vor Bundesrat, Parlament, Volk. Was passiert, wenn wir Nein sagen? Welche Wirkung hätte das auf unseren Wohlstand? Alles hat seinen Preis – wie hoch der wäre, wissen wir heute noch nicht genau.
«Ein Freihandelsabkommen nimmt nur Zollhürden weg. Es ist nicht vergleichbar mit einem bilateralen Abkommen»
Die SVP hat vorgeschlagen, sich anstelle der Bilateralen auf ein Freihandelsabkommen mit der EU zu beschränken. Was halten Sie davon?
Das bilaterale Abkommen – eine partielle Binnenmarktbeteiligung - bedeutet, wir haben einheitliche Regeln und Standards. Wenn ich also Toaster produziere, nehme ich Schrauben aus Deutschland, Plastik aus Frankreich, Stromkabel aus Italien. Das funktioniert heute, weil wir teilweise in den EU-Binnenmarkt integriert sind. Wenn wir nur einen Freihandel hätten, dann könnten wir unsere Produkte ohne Zollhürden in diesen Ländern verkaufen – aber wir wären nicht Teil des gleichen Marktes. Die Stromkabel aus Italien würden nicht zu den restlichen Bauteilen passen und für jedes Land würden zusätzliche Anpassungsprozesse und Kosten anfallen. Vereinfacht gesagt ist ein Binnenmarkt wie eine Fabrik: Jedes Land ist eine Abteilung. Jede Abteilung ist unterschiedlich, aber das Produzierte passt am Schluss zusammen. Ein Freihandelsabkommen nimmt die Zollhürden weg, aber nicht mehr als das. Es ist nicht vergleichbar mit einem bilateralen Abkommen für einen Binnenmarkt.
Welche Rolle der Schweizer Bevölkerung (oder der Wirtschaft) wünschen Sie sich für die weiteren Verhandlungen?
Die Wirtschaft habe ich mehrmals persönlich klar aufgefordert, zu sagen, was sie will. Der Bundesrat hat seine Aufgabe erledigt: Beispielsweise will er kein Finanzdienstleistungsabkommen. Nun muss die Wirtschaft das Gleiche tun: Sie soll klipp und klar sagen, was sie will, wozu sie steht, welche roten Linien zu ziehen sind. Dann haben wir die beste Ausgangsposition gegenüber der EU.
Die EU hat es übrigens sehr geschätzt, dass die Regierung in der Schweiz jetzt für Klarheit sorgt. Das schafft klare Verhältnisse für die Verhandlungen.
Dieses Interview erschien auch im Freisinn.
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