In der Westschweizer Zeitung «Le Temps» vom 12. Januar sprechen sich die Genfer Ständerätin Lisa Mazzone (Grüne) und die Flüchtlingshelferin Julie Melichar gegen eine Stärkung der europäischen Agentur Frontex aus. Sie verweisen dabei auf die immer noch zahlreichen Überfahrten von Migranten von Libyen nach Europa. Zweifellos ist die gravierende Situation der Migranten in Libyen eine traurige Realität. Die vielen menschlichen Tragödien, die sich wenige hundert Kilometer vom europäischen Festland entfernt abspielen, lassen niemanden kalt. Sich ohne eine Alternative nun einfach gegen Frontex zu stellen, löst keine Probleme, sondern schafft neue. Angesichts von 600'000 Migranten in Libyen würde eine unkontrollierte Einreise nach Europa einen Schneeballeffekt auslösen und noch mehr Wirtschaftsmigranten in das nordafrikanische Land locken.
Schon jetzt zeichnet sich ab, dass sich die Migratioinsströme nach Europa in diesem Jahr weiter verstärken werden. Mario Gattiker, ehemaliger Staatssekretär für Migration, erwartet im laufenden Jahr einen Anstieg der Asylgesuche. Grund dafür sei die politische Instabilität in Ländern wie Äthiopien, Guinea, Mali, Tschad und Libyen. Gemäss dem italienischen Innenministerium kamen im letzten Jahr rund 67'000 Migranten nach Italien, was gegenüber den 34'000 Migranten im Jahr 2020 fast einer Verdoppelung entspricht.
Die EU-Agentur Frontex setzt im Mittelmeer auf Luftunterstützung (unter anderem mit Drohnen), um Boote in Seenot und andere grenzüberschreitende illegale Aktivitäten aufzuspüren. Die Zuständigkeitsbereiche sind dabei klar. So müssen Boote von Migranten, die sich im libyschen Rettungsperimeter befinden (der sogenannten SAR-Zone) der libyschen Küstenwache gemeldet werden und nicht Italien oder Malta.
Es ist deshalb entscheidend, dass sich die politische Lage in Libyen stabilisiert, damit die Migration professioneller und unter Einhaltung der Menschenrechtsstandards gesteuert werden kann. Dafür setzt sich auch Bundespräsident und Aussenminister Ignazio Cassis ein. So nimmt er regelmässig an internationalen Libyen-Konferenzen teil. Zudem finden in Genf Gespräche zum Friedensprozess in Libyen statt. Im Oktober 2020 hat die UNO einen Waffenstillstand in Libyen verkündet, der bis heute anhält.
Dennoch bleiben die Zustände in Lybien schwierig. In den letzten Jahren wurden auch immer wieder humanitäre Organisationen beschuldigt, mit den Schleppern zu kooperieren. Bereits 2017 kritisierte der Frontex-Direktor Nicht-Regierungsorganisationen, die Migranten vor der Küste Libyens helfen. Seiner Ansicht nach fördern diese den Menschenhandel. Tatsächlich treiben die Schlepper mit den Migranten ein übles Spiel: Sie versprechen ihnen ein besseres Leben in Europa. Dabei erhält ein Grossteil der Migranten, die auf Rettungsbooten nach Italien kommen, kein Asyl, da es sich bei ihnen um Wirtschaftsmigranten handelt.
Wenn man Frontex die Mittel für die Überwachung des zentralen Mittelmeeres verweigert, riskieren wir in Europa und indirekt auch in der Schweiz eine starke Zunahme dieser irregulären Überfahrten, was de facto zu noch mehr Todesopfern führen wird. Das müssen wir verhindern. Die Erhöhung des Frontex-Beitrags ist unerlässlich für ein Mindestmass an Kontrolle der Migrationsströme im Mittelmeer. Parallel zu diesem Beitrag ist es aber ebenso unerlässlich, dass wir verstärkte Entwicklungshilfe in den Herkunftsländern der Migranten leisten sowie dazu beitragen, einen besseren Grenzschutz der Nachbarländer Libyens aufzubauen.
Damian Müller, Ständerat LU
Dieser Text erschien erstmals als Meinungsbeitrag am 19. Januar 2022 in «Le Temps»