Wir feiern dieses Jahr 175 Jahre Bundesverfassung. Was bedeutet das Jubiläum für Sie?
Ignazio Cassis: Sehr viel! Die Bundesverfassung hat die Schweiz von einem Staatenbund zu einem Bundesstaat gemacht. Damit wurde unser Zusammenhalt neu konzipiert und wir mussten eine neue Identität entwickeln. Seit 175 Jahren arbeiten wir daran: heute noch!
Karin Keller-Sutter: Mich fasziniert, wie die Bundesverfassung geschaffen wurde. Es gab da einen historischen Moment, ein «window of opportunity», wie man heute sagen würde – und die Mitglieder der Revisionskommission haben dieses genutzt. Dieser Tatkraft verdanken wir die älteste Demokratie Europas. Wir können nicht genügend dankbar sein.
Lässt sich die Arbeit der ersten Bundesräte mit Ihrer Arbeit als Bundesrat heute vergleichen? Gibt es etwas Besonderes, das gleichgeblieben ist?
Ignazio Cassis: Damals wie heute ist es für uns Bundesräte ein grosses Privileg, unserem Land eine Identität zu verleihen und unsere Zukunft zu ermöglichen. Inhaltlich sind die Bedürfnisse der heutigen Gesellschaft wohl kaum vergleichbar mit damals: Komplexität und Geschwindigkeit haben zugenommen. Das Departement des ersten Aussenministers Jonas Furrer umfasste nur ihn und einen Sekretär: heute arbeiten für das EDA fast 5500 Angestellte auf der ganzen Welt.
Karin Keller-Sutter: Diese neue Geschwindigkeit, die Ignazio hier beschreibt, ist Segen und Fluch zugleich. Segen, weil es heute viel einfacher ist, sich auszutauschen und verschiedene Positionen an einen Tisch zu bringen – und sei dieser auch nur virtuell. Fluch, weil die Gefahr besteht, ob aller Geschwindigkeit die Gründlichkeit zu vernachlässigen. Als Bundesrätin muss man aber stets fokussiert sein.
Haben Sie als St. Gallerin beziehungsweise als Tessiner einen unterschiedlichen Bezug zu unseren Institutionen?
Karin Keller-Sutter: Man sollte nicht generalisieren, aber Ostschweizerinnen und Ostschweizer setzen stark auf Eigenverantwortung. Der Staat als allumsorgende Institution, die jede Delle glättet und jedes Problem für die Bürgerinnen und Bürger löst, ist ihnen fremd – und in gewisser Weise gar suspekt. Was man selber machen kann, das macht man selber. Und man trägt dann auch die Verantwortung. In diesen Tugenden erkenne ich mich als Person und als Freisinnige gut wieder.
Ignazio Cassis: Für die Tessiner und die italienisch-sprachige Bündner ist Bern sehr weit weg, sowohl geographisch – auf der anderen Seite der Alpen – wie sprachlich. Und da die Sprache Ausdruck einer Kultur ist, gehören wir halt zu einem anderen Kulturraum. Das gilt auch für die politische Kultur. Diesen vier Sprachgemeinschaften eine gemeinsame Identität zu geben, war eben einer der Uraufgabe des neuen Bundesstaates im Jahr 1848. Dies geschieht unter anderem durch Institutionen wie den Bundesrat.
Vor 175 Jahren wurde der Grundstein für das Erfolgsmodell Schweiz gelegt. Was braucht es, damit dieses Erfolgsmodell auch in Zukunft Bestand hat?
Ignazio Cassis: Wir müssen es wollen. Von selbst entsteht kein Erfolgsmodell. Wir haben den Bundesstaat gegründet, um Freiheit, Sicherheit und Unabhängigkeit zu wahren und Wohlfahrt für uns und die künftigen Generationen herzustellen. Neben dem Recht der Freiheit steht die Pflicht zur Verantwortung. Somit entsteht das Erfolgsmodell, im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung unserer Vielfalt in der Einheit zu leben. Ein guter Weg dazu zeigen die Grundwerte der FDP: Freiheit, Gemeinsinn, Fortschritt und Verantwortung.
Karin Keller-Sutter: Das sehe ich sehr ähnlich. Die Verfassung hat uns Freiheit gesichert und jedem von uns auch Verantwortung gegeben. Diese Werte müssen wir beibehalten. Ich sehe – nicht erst seit der Corona-Pandemie, aber seither besonders – die Tendenz, dass Freiheit mit Sorgenfreiheit oder Verantwortungslosigkeit gleichgesetzt wird. Der Staat soll alles richten. Hier müssen wir wachsam sein.
Welche Rolle kann die FDP hierbei spielen?
Karin Keller-Sutter: Die FDP trägt Freiheit und Verantwortung in ihren Genen. Die Partei tut dem Land den grössten Dienst, wenn sie zu ihren Überzeugungen steht. Auch wenn das gelegentlich unbequem ist.
Ignazio Cassis: Nach der Aufklärung haben die Freisinnigen die westlichen liberalen Demokratien gegründet. Mit dem Wohlstand vergisst man aber schnell, warum es uns gut geht. Das Engagement lässt nach. Dennoch sehe ich heute sehr motivierte Jungfreisinnige und tausende von engagierten Freisinnigen in Gemeinden und Kantonen. Das macht Freude! Und motiviert Karin und mich im Bundesrat wie auch Thierry als Präsident und Damien als Fraktionschef. Die FDP muss wieder mehr als Rückgrat unseres Landes anerkannt werden.
Im Oktober finden die eidgenössischen Wahlen statt. Sie haben beide mehrere Wahlkämpfe bestritten. Was ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Ignazio Cassis: Ich habe mich immer gefreut zusammen mit den Jungfreisinnigen Wahlkampf zu machen. Ich verfolge ihre Karrieren noch heute. Mit Ihnen zusammen machte Wahlkampf Freude.
Karin Keller-Sutter: Ich hatte immer Freude am Wahlkampf. Ich erinnere mich gern an die Wahlkämpfe als Regierungsrätin oder Ständerätin in meinem Kanton. An den Veranstaltungen im Säli eines Restaurants wird debattiert, man muss argumentieren und Red und Antwort stehen. Ich habe dabei sehr viel gelernt.
Sie haben beide ein intensives Halbjahr hinter sich. Was erwarten Sie für die zweite Jahreshälfte? Worauf freuen Sie sich?
Ignazio Cassis: Wie üblich wird vor den Wahlen das mediale Klima noch aufgeheizter als sonst. Die zunehmende Polarisierung der Politik und der Lärm in den Sozialen Medien werden die Unruhe noch steigen lassen. Es gilt für uns, innere Ruhe und kühlen Kopf zu bewahren. Im UNO-Sicherheitsrat – wo wir aktuell tätig sind - übernehmen wir Verantwortung in einer Welt, die immer weniger global, weniger demokratisch und weniger westlich wird. Mit der EU will der Bundesrat klare und stabile Beziehungen pflegen: es geht um Handel, Stromversorgung, Forschung, Pandemiebekämpfung und schliesslich auch Sicherheit. Der Krieg in der Ukraine dauert leider an. Langweilig wird es uns nicht.
Karin Keller-Sutter: Wenn ich ehrlich bin, Ignazio, wäre ich ganz froh, es würde zur Abwechslung einmal etwas langweiliger. Im Grunde sind die Welt und die Schweiz ja seit 2020 im Dauerkrisen-Modus, ich selber habe das im ersten Halbjahr 2023 ja besonders zu spüren bekommen. Vermutlich trifft Deine Einschätzung also auch auf mich zu: Es wird nicht langweilig werden.
Bald beginnt die traditionelle Sommerpause der Politik. Wie verbringen Sie diese etwas ruhigere Zeit?
Karin Keller-Sutter: Ich hoffe, dass ich verreisen kann. Wer führt, muss auch sich selber führen. Dazu gehört ein gelegentlicher Tapetenwechsel. Und man muss die Gelegenheit schaffen, um wieder auftanken zu können. In den Ferien lese ich gerne: ernsthafte Bücher, aber auch Krimis. Sehr wichtig ist mir auch, in der Sommerpause, Zeit mit Freunden und der Familie verbringen zu können.
Ignazio Cassis: Ich werde wie Karin auch versuchen, etwas Ruhe zu finden. Zeit für die Familie und die Freunde zu haben, ist mir auch wichtig. Und ich liebe es, den Luganersee zu geniessen.
Interview: Marco Wölfli