Herr Bundespräsident, lieber Ignazio, das Jahr 2021 war von der Pandemie geprägt, aber auch von wichtigen Dossiers wie Europa und der Altersvorsorge. Wie blicken Sie auf das vergangene Jahr zurück?
Zum Jahresbeginn 2021 hatten wir alle grosse Hoffnungen, dass die Pandemie bald enden würde. Doch das Virus wird uns nicht einfach so verlassen. Heute stellt uns die Omikron-Variante vor grosse Herausforderungen. Wir benötigen starke Nerven und Geduld, um uns dem Unbekannten zu stellen. Was die anderen Themen betrifft, so hat der Bundesrat am 26. Mai 2021 beschlossen, die Verhandlungen zum Rahmenabkommen zu beenden, weil eine Einigung mit der EU nicht mehr realistisch schien. Damit sind die Fragen zu den künftigen Beziehungen mit der EU nicht gelöst, aber der Bundesrat arbeitet weiterhin daran. Betreffend Altersvorsorge freue ich mich, dass das Parlament eine AHV-Reform verabschiedet hat, die hoffentlich auch in einer Volksabstimmung angenommen wird.
Am 8. Dezember 2021 wurden Sie zum Bundespräsidenten gewählt. Was bedeutet Ihnen dieses Amt?
Es ist eine grosse Ehre und macht mich stolz, meine Sprachgemeinschaft zu vertreten. Nach vielen Jahren bekleidet wieder ein Vertreter der italienischsprachigen Gemeinschaft das höchste Amt. Dieser symbolische und psychologische Aspekt ist wichtig für den nationalen Zusammenhalt. Ich bin mir aber auch der Verantwortung und der Herausforderung bewusst, die das Amt mitbringen.
Sie sind erst der fünfte Tessiner Bundespräsident seit 1848 und der zweite Freisinnige. Welche Rolle spielt der italienische Sprachraum in ihrem Amtsjahr?
Die sprachliche Vielfalt ist auch eine kulturelle Vielfalt. In der Schweiz leben wir in unterschiedlichen Kulturräumen. Das ist nicht leicht, aber wir haben es bisher geschafft, den nationalen Zusammenhalt zu erhalten. Ich will im Jahr 2022 daran erinnern, dass Vielfalt ein Vorteil und kein Hindernis ist. Gelebte Vielfalt ist eine Herausforderung und erfordert von allen die Bereitschaft, sich manchmal zurückzunehmen und einen Schritt auf sein Gegenüber zuzugehen. Ich will in meinem Präsidialjahr mit gutem Beispiel vorangehen.
Welche Schwerpunkte legen Sie in Ihrem Präsidialjahr?
Vielfalt ist sicher ein wichtiger Schwerpunkt, da ich als Vertreter einer Sprachminderheit diese Vielfalt auch vertrete. Das mit Abstand wichtigste Thema dürfte aber Corona sein. Die Pandemie bleibt eine grosse Herausforderung, nicht nur aus gesundheitlichen Gründen, sondern auch für die Gesellschaft und die Wirtschaft. Und wir sind alle müde, weil wir gehofft haben, dass die Welt Ende 2021 wieder in Ordnung ist. So ist es leider nicht gekommen. Doch wir müssen der Realität ins Auge blicken – mit Mut und Zuversicht.
Wieso haben Sie sich als Aussenminister dafür entschieden, in Ihrem Präsidentschaftsjahr vorzugsweise Reisen in der Schweiz durchzuführen?
Der Bundespräsident muss in erster Linie dafür sorgen, dass der Gesamtbundesrat seine Arbeit ordentlich durchführen kann. Dazu trägt er eine wichtige Verantwortung für den nationalen Zusammenhalt. Das ist immer eine grosse Herausforderung, aber in der Pandemie ist sie noch grösser. Wir haben in den letzten Monaten viel Unbehagen in der Bevölkerung gespürt. Es gibt harte Diskussionen zwischen Impf-Befürwortern und Impfgegnern oder über Fragen, ob es mehr Zentralisierung oder mehr Föderalismus braucht. Wir müssen nun darauf achten, dass wir zusammenhalten und uns von der Krise nicht spalten lassen. Deshalb werde ich im Präsidialjahr vor allem in der Schweiz unterwegs sein, ohne jedoch einige diplomatische Besuche im Ausland vermeiden zu können.
Sie sind nun seit gut vier Jahren Aussenminister und haben zahlreiche Länder bereist. Gibt es eine Reise oder ein Erlebnis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Da gibt es mehr als eine erinnerungswürdige Reise. So zum Beispiel die Reise nach Bagdad. Der Irak hat 30 Jahre Krieg hinter sich und befindet sich nun in einer Art Renaissance. Eindrücklich war auch die Reise in den Libanon. Das Land steckt in einer tiefen Krise. Am Abend gab es kein Licht auf den Strassen und man spürte in welch schwieriger Situation sich das Land befindet. Ähnliche Eindrücke erlebte ich in Libyen, das ebenfalls in einer problematischen Lage ist. Das sind alles Länder, die nicht so weit weg sind von der Schweiz. Die dortige Lage hat Auswirkungen auf unser Land. Deshalb muss sich die Schweizer Aussenpolitik damit auseinandersetzen.
Als Aussenminister pflegen Sie viel Kontakt zu Amtskolleginnen und -kollegen. Wie eng sind diese Kontakte? Gibt es auch Beziehungen auf persönlicher Ebene?
Zu den Aussenministern der Nachbarländer pflegt man engere Kontakte. Wir haben gemeinsame Lebens- und Wirtschaftsräume. Was das bedeutet, haben wir im ersten Lockdown in Konstanz gesehen, als plötzlich die Grenze zu Deutschland geschlossen war, oder bei der Grenzgänger-Thematik in Genf oder im Tessin. Mit diesen Amtskollegen pflege ich auch eine persönliche Beziehung. Wir telefonieren unkompliziert, insbesondere wenn es Herausforderungen gibt
Das EDA engagiert sich stark in der sogenannten Wissenschaftsdiplomatie. Worum handelt es sich und was sind die Ziele?
Das Projekt rief ich vor drei Jahren mit Unterstützung des Bundesrats sowie Kanton und Stadt Genf ins Leben, um dem internationalen Genf einen neuen Impuls zu verleihen. Im 21. Jahrhundert kommen auf das internationale Genf neue Herausforderungen zu: Ultraschnelle Entwicklungen von neuen Technologien wie zum Beispiel Robotersoldaten, die autonom Krieg führen können, selbstfahrende Autos oder Quantum Computing. Das bedeutet für die Menschheit grosse Chancen, aber auch Herausforderungen. Es geht darum zu analysieren, woran heute geforscht wird und zu antizipieren, welche neuen Technologien daraus entstehen könnten. Der Mensch muss im Zentrum bleiben und Risiken müssen möglichst unter Kontrolle gehalten werden. Wir brauchen deshalb Wissenschaftler, die uns sagen, wohin sich die Welt bewegt. Gleichzeitig müssen Diplomatie und Politik sagen: Wenn das in zehn Jahren Realität ist, was muss man bezüglich Regulierung und Umgang vorbereiten, um diese technologischen Innovationen in die Gesellschaft zugunsten des Einzelmenschen zu integrieren. Das nennt man Wissenschaftsdiplomatie (science-diplomacy) und ich freue mich sehr, dass wir darin dank der von uns gegründeten Stiftung GESDA Fortschritte erzielen. Ich bin überzeugt: das internationale Genf wird somit zum internationalen Hub für die Antizipation neuer Technologien werden.
In der Entwicklungshilfe möchte das EDA private Unternehmen stärker einbinden. Wie funktioniert das konkret?
Wir wollen in den Entwicklungsländern Perspektiven vor Ort schaffen. Junge Leute haben eine Perspektive, wenn sie Arbeit haben, ihren Lebensunterhalt bestreiten und eine Familie gründen können. Das ist nur möglich, wenn es Investitionen und Wirtschaftswachstum gibt, was voraussetzt, dass der Staat stabil ist und für gute Rahmenbedingungen sorgt. Arbeitsplätze werden von der Privatwirtschaft geschaffen. Daher ist die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft von grosser Bedeutung. Sie schafft Perspektiven für die jungen Menschen.
Vorhin haben wir bereits über das Tessin gesprochen. Wie ist Ihre Beziehung zu den Tessiner Parlamentariern und der Kantonalpartei? Gibt es einen regelmässigen Austausch?
Seit meinem Amtsantritt führe ich einen regelmässigen politischen Dialog mit der italienischsprachigen Deputation in den eidgenössischen Räten. Das geht über den Kanton Tessin hinaus, da wir in unserer Partei mit Anna Giacometti auch eine italienischsprachige Vertreterin aus dem Kanton Graubünden haben. Mit ihr und den acht National- und zwei Ständeräten aus dem Tessin treffe ich mich einmal pro Session. Wir diskutieren über Grenzbeziehungen und weitere Themen, die alle Parteien gemeinsam haben. Den gleichen regelmässigen politischen Dialog pflege ich zudem mit den Kantonsregierungen des Tessins und Graubünden.
Was wünschen Sie sich für die Schweiz im Jahr 2022?
Zunächst wünsche ich mir Ruhe, Geduld, Kraft und Mut, um der Covid-19-Pandemie, die uns ungeduldig und wütend macht, entgegenzutreten. Ich glaube fest daran, dass man in solchen Momenten die Zähne zusammenbeissen muss und sich nicht spalten lassen darf. Ich bin überzeugt, dass wir diese Krise überwinden, wenn wir zusammenhalten.
Interview: Fanny Noghero und Marco Wölfli