Die eidgenössische Volksinitiative "Ja zum Verhüllungsverbot", die am 7. März 2020 dem Volk und der Kantone zur Abstimmung vorgelegt wird, will folgenden Text in unserer Bundesverfassung aufnehmen:
Art. 10a Verbot der Verhüllung des eigenen Gesichts
1 Niemand darf sein Gesicht im öffentlichen Raum und an Orten verhüllen, die öffentlich zugänglich sind oder an denen grundsätzlich von jedermann beanspruchbare Dienstleistungen angeboten werden; das Verbot gilt nicht für Sakralstätten.
2 Niemand darf eine Person zwingen, ihr Gesicht aufgrund ihres Geschlechts zu verhüllen.
3 Das Gesetz sieht Ausnahmen vor. Diese umfassen ausschliesslich Gründe der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums.
Formal geht es darum, in unseren verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog eine Verbotsnorm aufzunehmen, die gleich nach dem Recht auf Leben und persönliche Freiheit (Art. 10) und gleich vor dem Schutz von Kindern und Jugendlichen (Art. 11) stehen würde. Vordergründig geht es darum, zu verhindern, dass ein jeder im öffentlichen Raum auftaucht, ohne sein Gesicht zu zeigen. In Wirklichkeit geht es bei dieser Initiative aber um das Verbot des Tragens des islamischen Schleiers, den "Niqab", der fälschlicherweise mit der "Burka" verwechselt wird, die vor allem in Afghanistan, aber kaum in Europa zu sehen ist. Ausserdem dreht sich die gesamte Kampagne der Befürworter der Initiative um Letzteres.
Die Initiative wurde vom "Egerkinger Komitee" gestartet, das hinter der Initiative zum Verbot des Baus von Minaretten steht. Dieses Komitee hatte im Jahr 2019 der FDP vorgeworfen radikale Islamisten zu schützen, indem es mit Propagandaplakaten vier unserer gewählten Nationalräte persönlich angriff: unsere Präsidentin Petra Gössi, unseren Fraktionsvorsitzenden Beat Walti sowie die Nationalräte Christa Markwalder und Christian Wasserfallen. Unsere Partei musste rechtliche Schritte einleiten, um diese Plakate entfernen zu lassen, mit Erfolg.
Eine unproblematische Situation in der Schweiz
Heute, in einer Zeit, in der auf unserem Kontinent fast jeder ausserhalb seiner Wohnung eine Maske tragen muss, wird uns vorgegaukelt, dass die radikal-islamistische Bedrohung in der Schweiz so gross ist, dass der Text unserer Bundesverfassung um ein Verbot der Gesichtsverhüllung ergänzt werden muss.
Es ist offensichtlich, dass der "Niqab" weder zu unserer Kultur noch zu unserer Lebensweise gehört und dass er nicht seinen Platz in unserer Gesellschaft einnehmen soll. Die Fakten bestätigen dies, denn die wenigen Menschen, die in unserem Land den Niqab tragen, sind meist wohlhabende Touristinnen aus den Golfstaaten, die man vor allem im Sommer entlang der Rue du Rhône in Genf oder der Bahnhofstrasse in Zürich sieht.
Es versteht sich auch von selbst, dass es völlig inakzeptabel ist, jemanden zu zwingen, sein Gesicht aus Gründen zu verbergen, die nur Nonnen beim Namen nennen. Ausserdem sind solche Handlungen bereits gemäss unserem Strafgesetzbuch strafbar.
Mit anderen Worten: Diese Initiative schafft Probleme, wo es objektiv keine gibt. Im Gegenteil, sie birgt vor allem die Gefahr, Spannungen in bestimmten Gemeinschaften zu erzeugen und zu verschärfen. In mehreren westlichen Ländern ist zu beobachten, dass junge Frauen aus der dritten Einwanderergeneration dazu neigen, den "Niqab" als Identitätsanspruch zu tragen - oft gegen den Rat der eigenen Müttern und Grossmüttern - insbesondere wegen der interreligiösen Spannungen, die sich in diesen Staaten allmählich eingestellt haben. Ausserdem könnte diese Initiative bewirken, dass Frauen, die unter dem Joch derer leben, die sie zum Tragen des islamischen Vollschleiers zwingen wollen, von unserer Gesellschaft ferngehalten werden.
Einen indirekten Gegenvorschlag als Garantie
Im Bewusstsein, dass die Initiative dennoch wichtige Fragen aufwirft, beschloss das Bundesparlament ihr einen indirekten Gegenvorschlag entgegenzusetzen. Letzterer sieht anstelle eines generellen Verbots der Gesichtsverhüllung eine Verpflichtung für Personen vor, und zwar ihr Gesicht gegenüber Behördenvertretern zu zeigen, wenn dies erforderlich ist, z. B. im Falle einer Kontrolle. Wer sich weigert, einer entsprechenden Anordnung Folge zu leisten, kann mit einer Geldstrafe belegt werden und sein Antrag auf Leistungen kann abgelehnt werden.
Dieser Gegenvorschlag würde auch die kantonale Autonomie respektieren. In der Schweiz liegt die Regelung des öffentlichen Raums in der Verantwortung der Kantone. Einige von ihnen, insbesondere der Kanton Genf, sehen z. B. ein Verbot des Tragens einer Kleidung vor, die eine Identifizierung während einer Demonstration verhindern soll. Auch die Kantone Tessin und St. Gallen, die sich bereits für die Umsetzung des in der Initiative vorgeschlagenen Verbots auf Bundesebene entschieden haben, werden es weiterhin anwenden können. Die Kantone Zürich, Solothurn, Schwyz, Basel-Stadt und Glarus (in der Landsgemeinde), die das Verbot kürzlich abgelehnt haben, werden hingegen nicht dazu verpflichtet.
Aus all diesen Gründen lädt Sie die FDP ein, NEIN zu dieser übertriebenen Initiative zu stimmen, damit der vernünftige Gegenvorschlag des Parlaments rasch in Kraft treten kann.