In diesem Kontext werden die zahlreichen Stimmen derjenigen, die sich die Gewinne und Reserven der SNB unter den Nagel reissen wollen, vielleicht etwas verstummen. Einer davon ist Nationalrat Pierre-Yves Maillard, der in diesem Frühjahr nicht zögerte, die Vorsicht bei der Gewinnausschüttung als "Manöver" zu bezeichnen, da "die SNB regelmässig Rekordgewinne erzielt (...) und der Trend sich fortsetzen wird". [1]
Was zeigt uns das? Einerseits, dass die SNB ihre Arbeit gut macht, die in erster Linie darin besteht, die Preisstabilität zu gewährleisten, also zu verhindern, dass jeder durch den Wertverlust des Geldes ärmer wird.
Andererseits zeigen diese Ergebnisse, die in ihrem Ausmass eindrücklich sind, dass die Vermögenswerte der SNB sehr schwankungsanfällig geworden sind und keinesfalls als garantiert angesehen werden können.
Das sind eigentlich keine neuen Erkenntnisse. Doch seit der Wirtschafts- und Finanzkrise von 2008 und der Aufblähung der Zentralbankbilanzen hat sich die Haltung vieler Akteure geändert. Diese Entwicklung wurde durch die Corona-Krise verstärkt.
Die stark gestiegenen Reserven der SNB und die zusätzlichen Gewinne, die an den Bund und die Kantone ausgeschüttet wurden, haben an den verschiedensten Fronten Begehrlichkeiten geweckt.
So forderten die Grünen die SNB auf, mit einer ausserordentlichen Intervention zur Bewältigung der Covid-Krise beizutragen. Einige, wie Nationalrat Martin Candidas (Mitte), forderten die Schaffung eines Staatsfonds. Und Nationalrat Alfred Heer (SVP) hoffte, mit dem Geld der SNB die AHV zu sanieren. Auch die SP setzt sich für die Schaffung eines staatlichen Fonds für eine Investitionspolitik ein. Schliesslich sammeln die Gewerkschaften und die Linke gemeinsam Unterschriften für eine Initiative, die darauf abzielt, einen Teil der Gewinne der SNB, darunter auch den Gewinn aus den Negativzinsen, der AHV zuzuführen. Selbst in der FDP wurden einige Ideen lanciert. Der Appetit ist gross.
Diese Ideen haben alle eines gemeinsam: Sie gehen davon aus, dass die Reserven oder Gewinne der SNB garantiert sind und ausreichen, um jegliche politische Anliegen zu finanzieren.
Diese Sichtweise ist gefährlich., Ohne bis zum Extrembeispiel Simbabwe zu gehen, wo das Geld aufgrund der Interventionen der Regierung Mugabe bei der Zentralbank jeglichen Wert verloren hat, gibt es auch näher bei uns Negativbeispiele. In der Türkei haben die Interventionen des Präsidenten in die Geldpolitik eine rasant steigende Inflation ausgelöst: Schätzungen zufolge 80% im Juni (!), was die Bevölkerung in die Armut treibt. Auch Italien hatte vor der Einführung des Euro mit solchen Problemen zu kämpfen.
Die Urheber der oben genannten Ideen werden entgegnen, dass sie die Finanzierungen nur in den Jahren nutzen wollen, in denen die SNB Gewinne erwirtschaftet. Dies ist eine verkürzte Überlegung, denn wenn die Erfolge der SNB zur Finanzierung wichtiger politischer Anliegen beitragen sollen, wird der Druck, Gewinne zu erzielen, so gross sein, dass die Bank ihre Geldpolitik nicht mehr autonom durchführen kann. Gerade in Krisenzeiten, wie wir sie nach der russischen Invasion in der Ukraine erleben, muss die SNB ihren Handlungsspielraum behalten, um notfalls auch hohe Verluste verbuchen zu können und z.B. bei einem erhöhten Inflationsdruck zu intervenieren.
Die haarsträubenden Beispiele im Ausland sowie die Verluste der SNB sollten uns daran erinnern, dass die Unabhängigkeit der SNB ein wertvolles Gut im Dienste der Bürger und Unternehmen unseres Landes ist. Eines kleinen Landes mit einer starken und sehr internationalen Wirtschaft, das empfindlich auf die Entwicklung der internationalen Märkte reagiert. Hören wir auf die Stimme der Vernunft und spielen mit der Unabhängigkeit der SNB kein russisches Roulette .
[1] L'Illustré vom 1.er Februar 2022, www.illustre.ch/magazine/pierre-yves-maillard-le-moment-est-venu-de-se-battre-pour-lavs