Die ersten stabilen, bis zum heutigen Tag bestehenden Demokratien in Europa sind die schweizerischen Kleinstaaten, die Kantone, die sich zur Zeit der französischen Juli-Revolution von 1830 neue Verfassungen geben. Ihre Existenzberechtigung beziehen sie aus dem Prinzip der Volkssouveränität.
Damit kollidieren sie mit den fünf Grossmächten, mit der «göttlichen Ordnung» und dem monarchischen Prinzip, das besagt, dass nur ein Monarch legitimer Souverän sein kann. Daraus leiten die Grossmächte das Recht zur Intervention gegen liberale, demokratische und nationale Bestrebungen ab.
Zum Vorbild für die mitteleuropäischen liberalen Bewegungen entwickelt sich die Schweiz trotzdem. Für Europas liberale Minderheiten ist sie progressive Schrittmacherin, für die konservative Elite ein hochgefährlicher demokratisch-liberaler Ansteckungsherd, der tausende von deutschen Untertanen (so die offizielle Bezeichnung) in Versuchung führt.
Ochsenbeins prägende Ansprache
Die liberaldemokratischen eidgenössischen Stände sind also eine europäische Anomalie. Eine zunehmend selbstbewusste, wie der 5. Juli 1847 lehrt. Es ist der Tag, an dem Tagsatzungs- und Bundespräsident Ulrich Ochsenbein seine je nach Standpunkt berüchtigte oder berühmte Ansprache zur Eröffnung der ordentlichen Tagsatzung des Jahres 1847 hält. Ochsenbein diagnostiziert eine durch neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik veränderte geistige und materielle Welt und daneben eine politische Welt, die nicht Schritt hält. Hierauf positioniert er die Schweiz auf einer höheren Legitimitätsstufe als die europäischen Mächte. Mit der Begründung, dass in den Kantonen bereits Realität sei, was «anderwärts als höchstes Ziel erst noch angestrebt» werde: das «ewig und einzig wahre Prinzip der Volkssouveränität» und «die politische Gleichheit aller Staatsbürger». Das mache die Schweiz und ihre Einwohner zur Nation. Und diese Nation werde einen demokratischen Gesamtstaat auch gegen das ausdrückliche Verbot der Grossmächte errichten. Denn diese hätten kein Recht, ihr das zu verbieten. Schliesslich sagt er den Grossmächten den baldigen Zusammenbruch aus innerer Fäulnis voraus.
Libera-radikaler Sieg im Sonderbundskrieg
Im November 1847 kommt es zum Sonderbundskrieg zwischen den liberal-radikalen und den katholisch-konservativen Kantonen. Die Grossmächte unterstützen Letztere, aber nicht militärisch – weil sie Aufstände im eigenen Land befürchten. Die Konservativen wollen am Status quo festhalten, namentlich an der Bestimmung, dass sämtliche Kantone im obersten Staatsorgan die gleiche Stimmkraft haben, für Uri (15'000 Einwohner) eine Stimme, für Bern (450'000 Einwohner) ebenfalls. Das würde einen künftigen demokratischen Gesamtstaat verunmöglichen. Das ist der Kriegsgrund.
Nach einem knappen Monat erkämpfen sich die Liberal-Radikalen den Sieg im Sonderbundskrieg. Er erlaubt ihnen zu tun, was sie seit Jahren wollen: aus dem losen Staatenbund von 1815 einen Gesamtstaat machen. Ob Zweikammerbundesstaat oder Einheitsstaat mit Auflösung der Kantone, das allerdings ist innerhalb der Liberal-Radikalen noch umstritten.
Revolutionen in Europa
Der Neubau der Schweiz beginnt am 17. Februar 1848, 9 Uhr, im Rathaus des Äusseren Standes zu Bern. 23 Kantonsvertreter versammeln sich zur Bundesrevisionskommission. Es dominieren Juristen, Kaufleute, Mediziner und Industrielle. Also die klassisch zum radikal-liberalen Lager neigenden Berufskategorien. Die Kommission wird von Tagsatzungs- und Bundespräsident Ochsenbein geleitet.
Da geschieht Unglaubliches, fünf Tage nach Arbeitsbeginn der Kommission. Was Präsident Ochsenbein vorausgesagt hat, tritt ein: Europa brennt! In Frankreich beginnt es mit der Februarrevolution. Binnen Monatsfrist befinden sich an die vierzig Staaten im revolutionären Umbruch. Throne wanken, Könige und Minister stürzen, Frankreichs König Louis-Philippe als erster. Auch Metternich in Österreich.
Die Schweiz befindet sich inmitten eines vulkanisch-brodelnden Staatenmagmas. Niemand kann wissen, was daraus wird. Wird man es mit friedlichen Republiken zu tun haben? Oder kommen die Könige und andere Machthaber wieder zurück?
Die Situation fordert dem Land Jahrhundert-Entscheide ab: Es ist ein neuer Staat zu erfinden – und dieser noch gar nicht existierende Staat in einem brennenden Europa zu positionieren.
Liberale Schwerpunkte für den neuen Bundesstaat
Die 1847/48 erfolgreichen politischen Akteure der Eidgenossenschaft sind die Liberal-Radikalen, die Vorläufer des späteren Freisinns. Und davon vor allem jene, die sich 1848 als Mitglieder der Bundesrevisionskommission in Bern aufhalten – die meisten Kantone haben ihre obersten Magistraten in die Kommission geschickt. Und diese legen die zukunftsentscheidenden Parameter fest: Demokratischer Zweikammer-Bundesstaat als neue Staatsarchitektur und bewaffnete Neutralität als Verteidigungsinstrument ausserhalb der Verfassung.
Historische Bedeutung als Verfassungsschöpfer und aussenpolitischer Kopf darf Ochsenbein für sich beanspruchen. Historisch erfolgreich operierten auch die liberalen Katholiken, indem sie Präsident Ochsenbein vertrauten und den Zweikammer-Bundesstaat als historischen Kompromiss zugunsten sowohl der katholischen Kantone als auch der ganzen Eidgenossenschaft erkannten. Und ihm zum Leben verhalfen.
Die Bundesrevisionskommission von 1848 ist die wichtigste Kommission, die die Schweiz je gehabt hat. In nur gerade 51 Tagen und 31 Sitzungen erarbeitet sie unter Ochsenbein einen derart perfekten Verfassungsentwurf, dass sowohl Kantonalinstanzen als auch die Tagsatzung nur bescheidene Retuschen anbringen. Am 12. September 1848 erklärt sie die Bundesverfassung zum neuen Grundgesetz.
So haben die Vorväter des Freisinns 1848 die Schweiz verändert:
- Die Verfassung von 1848 bringt das demokratische Prinzip auf Bundesebene und organisiert einen Bundesstaat mit repräsentativer Demokratie und zwei direktdemokratischen Elementen: Verfassungsinitiative und obligatorisches Verfassungsreferendum.
- Es entsteht ein föderalistisches Zweikammersystem mit National- und Ständerat.
- Sechs Bundesräte und ein Bundespräsident bilden die Exekutive.
- Es wird ein Bundesgericht geschaffen.
- Die Aussenpolitik wird Bundessache.
- Es entsteht ein Bundesheer.
- Ein einheitlicher Wirtschaftsraum wird geschaffen: durch Transfer der Binnenzölle an die Aussengrenze, einheitliche Währung, einheitliches Mass und Gewicht, freie Niederlassung.
- Individual- und politische Freiheitsrechte sind gewährleistet.
- Der Bund kann öffentliche Werke und eine Hochschule errichten.
- Die Förderung der gemeinsamen Wohlfahrt wird Bundeszweck.
- Zur Gewährleitung der Kantonsverfassungen werden Mindeststandards festgelegt.
Die Bundesverfassung von 1848 markiert den Start einer Erfolgsgeschichte, die bis heute anhält. Schattenseiten sind das fehlende Frauenstimmrecht und die späte Judenemanzipation.
Der Schweizer Staatsgründungsakt ist eine hochbedeutende Errungenschaft für die Eidgenossenschaft – aber nicht nur für sie. Er ist auch ein europäischer Wurf. Denn der Bundesstaat von 1848 ist die einzige demokratische Republik in Europa, und das für sehr lange Zeit.
Rolf Holenstein
Rolf Holenstein, geboren 1946 in Frauenfeld, ist historiografischer Publizist. Er ist Autor der Bundesratsbiografie «Ochsenbein» und des Buches «Stunde Null». Darin zeichnet Holenstein anhand der Privatprotokolle der Teilnehmer nach, wie die Bundesverfassung im Jahr 1848 entstanden ist. Beide Werke sind im Echtzeit Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.