Die Zahl der Eheschliessungen in der Schweiz nimmt seit 2010 tendenziell ab. Wieso braucht es die Ehe für alle noch?
Es waren in den 70er Jahren auch schon weniger Hochzeiten. Interessant ist doch, dass diese Zahl in der Schweiz verhältnismässig stabil ist: Die Ehe bleibt populär, auch wenn wir heute auch andere Formen des Zusammenlebens kennen. Zwei Frauen oder zwei Männer können etwa eine eingetragene Partnerschaft eingehen. Diese ist der Ehe aber nicht gleichgestellt. Sie hat nicht die gleiche Symbolik und es bestehen nach wie vor auch rechtliche Unterschiede, etwa bei der Adoption von Kindern, beim Zugang zur Fortpflanzungsmedizin sowie bei der Einbürgerung.
Ist die Ehe für alle mit der Verfassung vereinbar?
Die Frage ist legitim, weil es dazu unterschiedliche Meinungen gibt. Sowohl der Bundesrat als auch das Parlament haben sich mit dieser Frage intensiv auseinandergesetzt: Gutachten wurden eingeholt und Experten angehört. Beide sind zum Schluss gekommen, dass eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare keine Verfassungsänderung erfordert. Die Verfassung definiert die Ehe nicht als Verbindung zwischen Frau und Mann.
Viele sagen, ein Kind brauche Mutter und Vater. Mit der Ehe für alle wäre dies erstmals anders.
Nein, das wäre nichts Neues. In der Schweiz werden 40 Prozent der Ehen geschieden. 20 Prozent der Kinder leben heute in nicht-klassischen Familien. Jedes siebte Kind wächst bei nur einem Elternteil auf. Bereits heute ist für Paare in eingetragener Partnerschaft die Stiefkindadoption möglich. Kinder brauchen zuallererst verlässliche Beziehungen zu Menschen, die sie begleiten und ihnen ein Umfeld bieten, in dem sie Liebe und Geborgenheit erfahren können.
Die Gegner monieren, dass die Ehe für alle der Zwischenschritt zur Zulassung der Eizellenspende und Leihmutterschaft ist. Stimmt das?
Nein, es sind hier keine weiteren Anpassungen vorgesehen. Die anonyme Samenspende und die Eizellenspende bleiben für alle Paare verboten, das Verbot der Leihmutterschaft steht sogar in der Verfassung. Damit haben alle Ehepaare, auch gleichgeschlechtliche, im Bereich der Fortpflanzungsmedizin die gleichen Rechte.
Mit der Öffnung der Samenspende wissen Kinder von zwei Frauen nicht mehr, wer der Vater ist.
Kinder haben ein Recht zu wissen, wo sie herkommen, das ist sogar in der Verfassung verankert. Das ist mir sehr wichtig. Darauf hat auch der Bundesrat in den parlamentarischen Beratungen gepocht. Der Ständerat hat dann eine gute Lösung gefunden, die dieses Recht sicherstellt: Bei der gesetzlich geregelten Samenspende von verheirateten Frauenpaaren wird jede Spende registriert. Jedes Kind kann mit 18 Jahren Einsicht in dieses Register verlangen. Anonyme Samenspenden bleiben in der Schweiz hingegen zu Recht verboten.
«Wenn der gesellschaftliche Wandel reif ist, folgt die staatliche Gesetzgebung.»
Die Schweiz gehört in Westeuropa zu den letzten Ländern, die die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnet. Wie kommt das?
Ich bin der liberalen Überzeugung, dass der Wandel aus der Gesellschaft kommen muss. Wenn der Wandel reif ist, dann folgt die staatliche Gesetzgebung. Es ist nicht am Staat, Verhaltensweisen und Sitten zu diktieren. Die Forderung nach der Ehe für alle ist in der Gesellschaft gewachsen. Wir sehen, dass sie in dieser Frage heute viel offener ist als noch vor einigen Jahren.
Weshalb ist die Ehe für alle ein typisch freisinniges Anliegen?
Am Ende ist die zivile Ehe ein Vertrag zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Der Staat soll private Beziehungen nicht werten und den Menschen also auch nicht vorschreiben, wie sie ihr Paar- und Familienleben zu gestalten haben. Es gibt keinen Grund, diesen Vertrag nicht allen anzubieten. Der Staat lässt damit allen die Wahlfreiheit. Für die Ehe zwischen Frau und Mann ändert sich zudem nichts, es entsteht niemandem ein Nachteil. Ich finde, das ist eine liberale Kernforderung.
Sie sind seit 32 Jahren verheiratet. Würden Sie im Fall eines Ja zur Ehe für alle gleichgeschlechtlichen Paaren die Heirat empfehlen?
Es ist nicht an mir als Bundesrätin, Ratschläge in Ehefragen zu erteilen, und schon gar nicht als Liberale (lacht). Jedes Paar soll die Form des Zusammenlebens selbst bestimmen. Ich kann nur für mich selbst reden: Die Heirat war für mich nie einfach eine juristische Sache, sondern eine Liebesheirat. Mir war auch die Symbolik wichtig.