Vor sechs Monaten kamen die ersten ukrainischen Flüchtlinge in die Schweiz. Wie ist die Lage heute?
Über den Sommer nahm die Zahl der neu ankommenden Geflüchteten auf etwa 100 pro Tag ab. Zu Beginn waren es in der Spitze bis zu 1800 Personen pro Tag. Die Situation hat sich inzwischen beruhigt. Der Zustrom von Geflüchteten hängt jedoch vom Kriegsverlauf und den Lebensbedingungen in der Ukraine ab und kann sich deshalb zum Beispiel im Herbst wieder ändern.
Mit welcher Entwicklung rechnen Sie im Herbst?
Ich möchte nicht spekulieren. Wichtig ist, dass sich die Behörden auf verschiedene Szenarien vorbereiten. Wie bereits erwähnt, spielt der Kriegsverlauf hier die zentrale Rolle. Weitere Faktoren sehe ich bei der Energieversorgung in der Ukraine oder der Weiterwanderung von Schutzsuchenden aus den Nachbarstaaten der Ukraine. Auch die Zahl der regulären Asylgesuche dürfte tendenziell zunehmen. Der Migrationsdruck ist insgesamt deutlich angestiegen. Auf der anderen Seite bereiten wir uns schon jetzt auf eine allfällige Rückkehr der Geflüchteten aus der Ukraine vor. Schon vor den Sommerferien habe ich dem SEM den entsprechenden Auftrag dazu erteilt.
Zu Beginn ging es darum, dass alle Flüchtlinge ein Dach über den Kopf und den Schutzstatus S gekriegt haben. Welche Herausforderungen stellen sich heute?
Die Unterbringung ist ein Dauerthema. Die Zuständigkeit liegt hier bei den Kantonen. Mittelfristig müssen sich das SEM und die Kantone darauf vorbereiten, dass die Anzahl täglich neuankommender Personen aus der Ukraine wieder ansteigen könnte. Weitere Herausforderungen sind die Integration in den Arbeitsmarkt sowie auch die Frage der Rückkehr.
Was kann unternommen werden, um die Erwerbsquote der Ukrainerinnen und Ukrainer zu erhöhen?
Schon heute arbeitet knapp jede 10. Ukrainerin beziehungsweise jeder 10. geflüchtete Ukrainer. Dieser Wert ist höher als bei anderen Flüchtlingen. Es gilt zu bedenken, dass 75 Prozent der Geflüchteten im erwerbsfähigen Alter Frauen sind, die auch Betreuungsaufgaben erfüllen müssen. Es ist mir wichtig, dass wir hier im engen Kontakt mit der Wirtschaft arbeiten. Die Sozialpartner treffe ich deshalb regelmässig.
Wie sieht die langfristige Strategie im Umgang mit den Ukraine-Flüchtlingen aus?
Der Status S ist rückkehrorientiert und auf ein Jahr befristet, also bis März 2023. Der Bundesrat wird entscheiden, ob er den Status S verlängert oder aufhebt. Bereits Ende Juni habe ich den Auftrag erteilt, alle rechtlichen, organisatorischen und logistischen Fragen zu klären, unter welchen Umständen und wie die Menschen dereinst zurückkehren können. Wie bei der Aktivierung des Status S braucht es auch bei dessen Aufhebung eine enge Koordination auf europäischer Ebene.
Besteht die Gefahr, dass die grosse Hilfsbereitschaft der Schweizer Bevölkerung abnimmt?
Bis jetzt stelle ich weiterhin eine grosse Solidarität und Hilfsbereitschaft fest. Wichtig ist, dass es keine Missbräuche gibt, gerade in der Sozialhilfe. Wir arbeiten daran, an der EU-weiten Registrierungsplattform teilnehmen zu können. Die Plattform erlaubt einen Abgleich der Daten zwischen den Schengen-Staaten, um zu sehen, ob jemand schon in einem anderen Staat einen Schutzstatus hat. Gleichzeitig ist es wichtig, dass die Kantone mit geeigneten Massnahmen dafür sorgen, dass niemand Sozialhilfe bezieht, der dazu nicht berechtigt ist.
Ist der Schutzstatus S auch für künftige Flüchtlingsbewegungen gemacht oder muss er reformiert werden?
Der Status S ist die Ausnahme und nicht die Regel. Er wurde für die kollektive Aufnahme von Kriegsflüchtlingen geschaffen, die schnell und unbürokratisch den vorübergehenden Schutz der Schweiz brauchen. Für Personen, die eine individuelle Verfolgung geltend machen, bleibt das ordentliche Asylverfahren die Regel. Da wir den Status S zum ersten Mal anwenden, habe ich bereits im Mai eine Evaluationsgruppe eingesetzt, die im Juli ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie prüft, inwiefern sich der rechtliche Rahmen des Status S bewährt hat. Die Evaluationsgruppe wird bis Ende Juni 2023 eine Analyse des rechtlichen Handlungsbedarfs und Spielraums vornehmen. Ich erwarte einen Zwischenbericht bis Weihnachten.
Interview: Marco Wölfli