Während der Debatten im Parlament meldeten sich viele Abgeordnete aller Parteien, ob Befürworter oder Gegner der Initiative, zu Wort, um ihr Unbehagen vor einer mit einer Burka oder einem Niqab bekleideten Frau zu unterstreichen. Die meisten sehen es als Symbol für die Unterdrückung der Frau, was sie ausdrücklich verurteilen. Diese Kleidung trägt nicht zur Integration oder Gleichberechtigung bei, im Gegenteil.
Die Mehrheit des Parlaments betont jedoch, dass die Initiative dieses Problem nicht lösen wird und dass eine liberale Gesellschaft das, was sie stört, nicht sofort verbannen, sondern durch die Kraft ihrer Werte integrieren sollte.
Das Verbot, eine Person zu zwingen, ihr Gesicht zu verdecken, ist bereits durch das Strafgesetzbuch abgedeckt und als Nötigung strafbar. Es ist zu befürchten, dass ein generelles Verhüllungsverbot die Frauen nicht befreien, sondern stärker einschränken würde, da Männer, die sie zwingen, ihnen künftig verbieten würden, das Haus zu verlassen.
Darüber hinaus erlaubt die geltende Gesetzgebung bereits Eingriffe, zum Beispiel im Rahmen der Bestimmungen zum Aufenthaltsrecht, zur Einbürgerung oder zur Sozialversicherung, wenn Kleidung die Integration einschränkt und sie zum Beispiel daran hindert eine Arbeit zu finden.
Nur eine sehr begrenzte Anzahl von Frauen trägt eine solche Kleidung in der Schweiz: schätzungsweise 20 bis 30 im Lande. Und einige sind konvertierte Schweizerinnen, die es freiwillig tragen. In diesem Fall, auch wenn wir diese Wahl nicht gutheissen, ist die Mehrheit des Parlaments der Ansicht, dass es keinen Grund gibt, anderen zu verbieten, selbst auffällige Kleidung zu tragen. Dies gilt umso mehr, als solch auffällige Kennzeichen (Bart, Haare, Kopfbedeckung usw.) für Männer, die zum Beispiel ihre Zugehörigkeit zum orthodoxen Flügel einer Religion kennzeichnen wollen, nicht verboten sind.
Bundesrätin Karin Keller-Sutter fragte kürzlich gegenüber SRF: Warum wollen wir Frauenkleider immer noch reglementieren?
Andere Frauen, die den Niqab tragen, sind Touristinnen auf der Durchreise und die Frage nach ihrer Integration stellt sich nicht. Die Initiative sieht jedoch eine begrenzte Anzahl von Ausnahmen vor. Tourismus zählt nicht zu diesen Ausnahmen. Dies kann als Risiko für Tourismusorte wie Genf, Luzern oder Montreux gesehen werden.
Ausnahmen - aber Schluss mit Maskottchen bei Sportvereinen
Auch die Verwendung von gesichtsbedeckenden Kostümen, z. B. für Maskottchen zu kommerziellen Zwecken oder bei Sportveranstaltungen, würde in ihrer jetzigen Form verboten werden. Dies wäre ein unnötiger Eingriff in die Wirtschaftsfreiheit für den die Initiative keine Ausnahme vorsieht.
Ausnahmen sind etwa vorgesehen für das einheimische Brauchtum der Fasnacht. Es ist zu hoffen, dass es auch Ausnahmen für Anlässe wie Halloween, Geburtstagsfeiern mit verkleideten Kindern auf öffentlichen Plätzen oder den Weihnachtsmann in der Weihnachtszeit geben wird. Die Kantone werden entscheiden müssen, denn die Initiative ist in diesem Punkt nicht eindeutig. Die Kantone und die Gerichte werden den in der Initiative vorgesehenen Begriff des "einheimischen Brauchtums" zweifellos grosszügig auslegen können.
Wer hingegen ausserhalb der Fasnachtszeit an einem öffentlichen Ort eine Maskenparty mit dem Motto "Karneval von Venedig" veranstaltet, macht sich zweifellos strafbar. Es ist nicht der Zweck der Initiative. Diese sieht aber keine Ausnahmen für diese Situationen vor - nicht alles kann auf "einheimisches Brauchtum" reduziert werden.
Mehrere andere Grundfreiheiten sind potenziell betroffen, z. B. die Religionsfreiheit, das Recht auf Privatsphäre, die Versammlungsfreiheit oder die Meinungsfreiheit. Während der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem französischen Fall diese Freiheitsbeschränkung zu Recht für zulässig befunden hat, zweifelt er zusammen mit Bundesrat und Parlament an der Verhältnismäßigkeit dieser Eingriffe angesichts der Situation in der Schweiz und der Chancen, das erklärte Ziel der Förderung der Integration der betroffenen Frauen zu erreichen. Die Situation in Frankreich scheint im Übrigen keine Verbesserung der Integration nach der Einführung dieses Verbots zu zeigen, im Gegenteil.
Auch der Eingriff der Initiative in die Kompetenzen der Kantone erscheint unverhältnismässig. Mehrere Kantone hatten die Möglichkeit, sich mit einem solchen Verbot zu befassen: Fünf haben sich dafür entschieden, darauf zu verzichten (darunter einer durch die Abstimmung seiner in der Landsgemeinde versammelten Bevölkerung). Nur zwei, das Tessin und St. Gallen, haben von dem Verbot Gebrauch gemacht. Das Tessin verteilt diesbezüglich 6 Bussgelder pro Jahr (hauptsächlich an Touristen aus dem Golf) und St. Gallen keines, was die sehr marginale Natur des Phänomens in der Schweiz unterstreicht.
Weder verbesserte Sicherheit noch einheitliche Regelung
Ein weiteres Argument ist das der Sicherheit. In den meisten Kantonen bestehen jedoch bereits Tarnverbote bei öffentlichen Veranstaltungen. Die Initiative bringt hier keinen zusätzlichen Sicherheitsgewinn. Ein bewaffneter Räuber wird nach diesem Verbot sicherlich nicht darauf verzichten, eine Maske zu tragen, um einen Überfall zu begehen, da er bereits gegen mehrere Strafvorschriften verstösst.
Schliesslich sieht die Initiative, obwohl sie die kantonalen Kompetenzen einschränkt, keine einheitlichen Regelungen vor: Es gibt keine Bundeskompetenz, so dass es den 26 Kantonen überlassen bleibt, ihre eigenen Ausführungsgesetze zu erlassen, mit Unterschieden in der Anwendung.
Wird die Initiative abgelehnt, tritt der indirekte Gegenvorschlag in Kraft. Einerseits sieht er die Pflicht vor, sich zu Identifikationszwecken durch Bundesbeamte oder ähnliche Personen, etwa gegenüber einem SBB-Kontrolleur, zu erkennen zu geben. Andererseits nimmt es auch ein zentrales Ziel der Initianten auf: die Integration von Frauen und die Förderung der Gleichstellung. Der Bund wird in der Lage sein, Projekte in diesem Bereich finanziell zu unterstützen.
Ein Nein zur Initiative bedeutet ein Ja zum Gegenvorschlag.