«Die Europäer verarmen». Dieser Titel des Artikels im «Wall Street Journal» vom 17. Juli ist nicht sehr ermutigend. Er sollte uns beunruhigen. Uns den Schlaf rauben. Aber niemand will der Realität in die Augen blicken.
Die Zahlen sprechen für sich. Bis 2008 waren die Volkswirtschaften der Euro-Zone und der USA mit etwas mehr als 14 Billionen Dollar gleich gross. Fünfzehn Jahre später stagniert das europäische BIP. Das der USA ist auf über 25 Billionen Dollar gestiegen. Die Grössenordnungen mögen je nach Indikator etwas variieren, der Befund bleibt immer derselbe: Im vergangenen Jahrzehnt ist Europa buchstäblich aus den Fugen geraten.
Die Schweiz, die sich rühmen konnte, weit über dem internationalen Durchschnitt zu liegen, geht leider den gleichen Weg wie die Euro-Zone und wird von den USA bedrängt. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir bis Ende des Jahrzehnts abgehängt sein.
Was ist los mit uns?
Ein Sozialmodell, das überdacht werden muss
Liegt es am europäischen Sozialstaat, um den uns der Rest der Welt beneidet?
Sicher ist, dass wir vor lauter Lob für seine unzähligen Vorzüge wohl vergessen haben, dass Wohlstand zuerst erarbeitet werden muss, bevor er verteilt werden kann. Und hier steht die Schweiz ihren Nachbarn in nichts nach. In der Berichtsperiode haben wir ein gutes Dutzend neuer Sozialversicherungen eingeführt oder bestehende ausgebaut. Die Sozialausgaben pro Kopf sind in dieser Zeit um ein Drittel gestiegen.
Ohne unser Sozialmodell demontieren zu wollen, ist die Maschinerie ins Stottern geraten. Bei jedem Problem findet sich ein wachsamer Geist, der darauf hinweist, dass das Leben in der Schweiz ohne diese oder jene zusätzliche Ausgabe unmöglich geworden ist. Wenn die Schweden, die Spanier oder die Österreicher einen Urlaub oder ein Sozialwerk eingeführt haben, dann brauchen wir das auch. Und zwar sofort. Es ist, als lebten wir in einer Vision aus Emile Zolas Albträumen und warteten auf den nächsten Sozialurlaub. Und wenn Sie den Fehler machen, zu sagen, dass es bis jetzt nicht möglich war, den Vaterschaftsurlaub auszuweiten, oder dass es nicht lebenswichtig ist, überall Bindenspender aufzustellen, dann wird man Ihnen sagen, dass ein so reiches Land wie die Schweiz sich diese kleinen Dinge leisten kann. Die jüngsten Entwicklungen in unserer Wirtschaft zeigen, dass dies vielleicht nicht so selbstverständlich ist.
Aber es gibt nicht nur Urlaub, sondern auch Arbeit. In unserer Gesellschaft wird Teilzeitarbeit fetischisiert und die 45-Stunden-Woche als Relikt aus den schlimmsten Zeiten der Geschichte dargestellt. In den Medien wird regelmässig die Vier-Tage-Woche propagiert, in Deutschland wird über ein Gesetz zur Einführung eines Rechts auf Siesta diskutiert und die Gewerkschaften fordern lautstark neue Ferienwochen. Können wir uns vorstellen, dass unsere Konkurrenten ernsthaft über das bedingungslose Grundeinkommen und das Recht auf Faulheit diskutieren? Vielleicht am ersten April.
Wenn Europa und die Schweiz aufwachen wollen, müssen sie sich einen Ruck geben und die Arbeit wieder ins Zentrum ihrer Werte stellen.
Überregulierung ist ein Innovationskiller
Emma Marcegaglia, die ehemalige Präsidentin des italienischen Arbeitgeberverbandes Confindustria, hat einmal gesagt: Wenn eine Innovation kommt, machen die Amerikaner daraus ein Geschäft, die Chinesen kopieren und die Europäer regulieren. Wenn dieser Satz zum Lachen war, kann er uns heute zum Weinen bringen.
Die Feststellung schreit zum Himmel. Wie viele Smartphones aus Europa gibt es? Wie viele europäische Einhörner im Bereich der erneuerbaren Energien? Wie viel KI-Software wird in Europa programmiert? Wer ist führend bei Elektrofahrzeugen, Raumfahrt und Streaming-Plattformen? Wer liegt in der Genforschung vorne? Wer treibt die Kernfusion voran? Die Liste liesse sich beliebig verlängern.
Und die Wahrheit ist leider erschreckend. Bei jeder dieser Innovationen standen die Europäer an vorderster Front, um unverdauliche Gesetze zu verabschieden, vom Datenschutz bis zum Verbot genetisch veränderter Organismen, so dass die Innovation nicht mehr auf dem alten Kontinent stattfindet (ausser bei der Erfindung von Steuern, da sind wir hervorragend). Über 5G wurde mehr wegen seiner esoterischen Mängel als wegen seines Fortschrittspotenzials gesprochen. Mit der Verabschiedung der berühmten Datenschutzgrundverordnung ist die Zahl der entwickelten Anwendungen eingebrochen. All dies, um Sie davor zu schützen, Ihre Daten freiwillig auf einem Kontinent preiszugeben, auf dem der Staat im Namen der Bekämpfung der Steuerhinterziehung ungehindert auf Ihre Bankkonten zugreifen kann.
Leider nimmt der Regulierungswahn kein Ende. Von der künstlichen Intelligenz bis zum selbstfahrenden Auto kämpfen die europäischen und schweizerischen Behörden gegen Windmühlen, während unsere Industrie verschwindet.
Aufgrund des hohen Handelsvolumens mit der EU kopieren wir systematisch die Fehler Brüssels... Auch wenn es kaum anders geht, ist das Vorgehen beunruhigend.
Der schlimmste Kollateralschaden ist zweifellos an den Universitäten zu finden. Man könnte sich damit beruhigen, dass wir, wenn wir schon keine Geschäfte machen, wenigstens in der Grundlagenforschung erfolgreich sind. Doch weit gefehlt. Im «QS World University Ranking», das jährlich die besten Universitäten klassiert, fallen die Schweiz und Europa zurück. Die ETH bleibt zwar (noch) in den Top 10 und rettet die Ehre der Schweiz, aber man sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht: Die erste europäische Universität, Paris PSL, liegt auf Platz 24, und unter den ersten 50 sind weniger als fünf Universitäten.
Durch die Konzentration auf intersektionale Gender Studies und anderen postmodernen Hokuspokus haben unsere Hochschulen einige wichtige Wendepunkte in der Entwicklung der Menschheit verpasst.
Dramatische Folgen
Die Folgen dieser Entgleisung sind dramatisch. Viel mehr, als wir uns vorstellen können. Nein, Wirtschaftswachstum ist nicht dazu da, die Welt mit nutzlosem Plastikkram zu überschwemmen. In den letzten zehn Jahren wurde das schrumpfende Wachstum in der Schweiz vollständig von den Ausgaben für die Renten und das Gesundheitswesen aufgezehrt.
Wenn sich eine Wirtschaft auf ihren Lorbeeren ausruht, zahlen die Bürger den Preis. Das haben wir in den vergangenen Monaten gesehen. Die Widerstandsfähigkeit Europas gegen den Inflationsschock ist praktisch gleich Null. Energie, Gesundheit, Lebensmittel und andere Kosten: Jede Preisbewegung stürzt Tausende von Menschen in Unsicherheit, manchmal sogar in Armut.
In den letzten 15 Jahren hat Europa einen Weg der Technokratie und der Selbstzufriedenheit eingeschlagen, der in den Untergang führen kann. Die Schweiz wird leider von ihrem Nachbarn auf diesen Irrweg gezwungen.
Der Weg aus der Sackgasse wird nicht einfach sein. Wir müssen unsere Denkweise ändern. Steuersenkungen, Deregulierung, Privatisierung sind unumgänglich. Grosse Worte, die auf dieser Seite des Atlantiks so beunruhigend klingen.
In der kommenden Legislaturperiode ist es an der Zeit, den Kurs zu korrigieren und zu den Grundlagen zurückzukehren, die unseren Reichtum ausmachen: Freiheit und Eigenverantwortung. Und sich für ein paar Jahre eine Pause von neuen Regulierungen und dem Ausbau des Sozialstaates zu gönnen. Nicht weil wir das nicht wollen, sondern weil wir es uns nicht leisten können.
Philippe Nantermod, Parteivizepräsident und Nationalrat VS
Dieser Blog ist eine Übersetzung der Kolumne, die auf Französisch im Blick erschienen ist.